Hof

First Post
Jodie stellte ihre Tasche auf dem Kopfsteinpflaster ab. Der Abschied fiel ihr jedes Jahr aufs Neue schwer. Sie genoss die Zeit bei ihrer Familie, denn dort konnte sie einfach sie selbst sein. Hier war sie jemand anderes. Ein Kunstobjekt, zu dem sie sich selbst gemacht hatte, wie sie sich ehrlich eingestand. Die Trapezartistin seufzte. Das Training war hart, sie sah ihre Familie nicht und vermisste vor allem ihre Schwester Esther , die für sie ihre Seelenverwandte und engste Vertraute war.
Doch Jodie wusste, dass neue Schuljahre immer überraschungen bargen. Vielleicht würde sie dieses Jahr sie selbst sien können? Doch insgeheim ahnte sie, dass das nur ein großer Wunsch war, denn nach dem anstrengendem Training waren die meisten auf Spaß und Ablenkung aus. Einer depressiven Mitschülerin zu helfen, wäre für die meisten wohl zu viel Belastung und was Jodie noch weniger leiden konnte als sich zu verstellen war die Option, allein sein zu müssen. Sie wüsste gar nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Vielleicht würde sie trainieren gehen? Aber irgendwie war sich die Blondine recht sicher, dass sie sich dazu nicht aufraffen konnte. Na ja. Sie würde sehen, wie es dieses Jahr laufen würde.
Die Jüdin schüttelte den Kopf um alle pessimistischen oder traurigen Gedanken zu vertreiben und sah sich neugierig um, ob schon jemand von ihren engen Freundinnen hier war.

FIRST POST

Die Räder des Rollkoffers ratterten über das Flaster, als Ilona Quickström die letzten Schritte über die Brücke, welche den einzigen Eingang zur Akademie darstellte, hinter sich brachte. Der kühle Wind, welchem sie auf der Brücke schutzlos ausgeliefert war, hatte das lange, blonde Haar völlig zerzaust. Kalt war ihr nicht, schließlich war sie an Kälte gewohnt und die graue Wollmütze, welche sich auf ihrem Kopf befand, wärmte sie bis hinunter zu den Ohren.
Endlich hatten die Ferien ein Ende gefunden. Ilona hatte sie wie immer bei Juliette Piguet verbracht, einer Lehrerin der Traumfänger-Akademie und gleichzeitig für sie so etwas wie eine beste Freundin. Sie hatte die Schülerin damals bei sich aufgenommen, da sie nicht einfach alleine in der Akademie hätte leben können.
Das Mädchen hatte bereits vor Augen gehabt, wie alle Blicke aufgrund des Lärms sich auf sie richten würden, sobald sie im Hof ankommen würde. Zu ihrem Glück war dies jedoch nicht der Fall, da noch alles ziemlich leer war. Erst ein Mädchen stand dort alleine mit ihren Koffer und sah sich um. Nach einiger Weile entpuppte sie sich dann als Jodie Vark, eine Luftakrobatin im Jahrgang der Finnin. Zögernd schritt Ilona auf sie zu.
"Hey...", sprach sie zur Begrüßung, schenkte Jodie ein leichtes Lächeln und wandte anschließend den Blick zu Boden, um einen Flasterstein anscheinend genauer unter die Lupe zu nehmen.

Jodie mochte den Innenhof der Akademie. Er war groß und klein - irgendwie beides und schön. Aber Jodie fand so ziemlich alles schön. Jeden Menschen, jedes Wesen, auch wenn sie mit Tieren nicht immer so gut zurecht kam. Alles hatte eine Schönheit von sich selbst und von innen heraus. Aber nur in sentimentalen Phasen - wie diese Abschiedsphase - fiel ihr diese Schönheit auf und sie spürte dann immer eine leichte Gänsehaut und sie fühlte sich immer ein wenig besser. Doch heute half es ihr nicht wirklich.
Plötzlich wurde sie von einem recht lauten Geräusch aus ihren Gedanken gerissen und suchte nach der "Lärmquelle". Es war ein Rollkoffer und die Person, die ihn zog, war Ilona Quickström, die von allen nur Lumi genannt wurde und die die allererste war, die mit elf Jahren an die Akademie gekommen war. Bleiben durfte sie allerdings nur, weil eine Lehrerin sie bei sich aufnahm und so eine Art Erziehungsberechtige wurde. So genau wusste Jodie es aber nicht.
Lumi war ein Jahr über ihr und eine Komikerin - ein Clown. Daher hatte Jodie nicht allzu viel mit ihr zu tun, auch, weil Lumi meist recht schüchtern und allein war.
"Hey..", begann die Finnen ein Gespräch und wie auf Knopfdruck lächelte Jodie und war wieder ganz die "Alte". "Hey Lumi. Und wie waren die Ferien? Was hast du so gemacht?"
Jodies Ferien waren nicht besonders aufregend gewesen, aber das war nicht schlimm, denn für die Jüden zählte nur, dass sie bei ihrer Familie war und so viel Zeit wie möglich mit ihren Schwestern und ihrem Vater verbrachte.

Wie ihre Ferien waren und was sie in diesen so alles gemacht hatte? Die eindeutig kleinere der beiden Mädchen kratzte sich kurz am Kopf und fing anschließend an, an einer Haarsträhne herumzuspielen.
"Sie waren ganz okay. Ich bin lieber in der Akademie als.. zuhause. Und wie waren deine?"
Erwartungsvoll blickte die Finnin ihr Gegnüber an. Sicherlich hatte sie weitaus spannenderes zu berichten. Ilona selbst tat nie irgendetwas besonderes oder außergewöhnliches in den Ferien. Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Zimmer, hörte Musik oder schaute hin und wieder Eishockey, las ein Buch oder trainierte. Da sie als Clown nicht sonderlich viel Platz brauchte, konnte sie dies auch in ihrem Zimmer tun. Dies war bei Jodie wohl anders, da man Luftakrobatik ja nicht gerade überall praktikzieren konnte.

Lumi wich Jodies Frage ein wenig aus, aber wenn sie nicht wollte, dann war das eben so und die Größere hatte keine Lust, irgendjemand schon am ersten tag auf den Schlips zu treten. Das würde schon von allein viel zu früh passieren.
"Ach, meine Ferien? Nichts besonderes. Ich war daheim bei meinen Schwestern, meinem Dad. Zwischendrin waren wir eine Woche bei Abraham, aber mehr auch nicht. Wir sind vier Kinder und Papa verdient nicht genügend, als das wir uns so großartige Reisen leisten könnten." Im Umgang mit Geld war Jodie offen udn ehrlich. Warum sollte sie auch lügen? Sie waren vier Kinder, alle noch in der Schule, die Mutter war tot und der Vater musste alleine sich um Arbeit, Kinder und den Hausholt kümmern. Zwar nahm ihm Rebekka in bezug auf Hannahg, die jüngste der Schwestern und den Haushalt viel Arbeit ab, aber so genossen alle zusammen die zeit zu hause, besuchten das Grab der Mutter und machten lieber Urlaub auf "Balkonien", wie Esther immer zu sagen pflegte. Und irgendwo war immer etwas los, weswegen es auch nie langweilig wurde.
Dass sie Abraham, den Großvater, den aber jeder bei seinem richtigen Namen nannte, besuchten, war selbstverständlich. Er war wichtig und übernahm bei den Festtagen immer die Rolle des familienvorstandes, wenn er mit der Familie zusammen feierte. - und das tat er meistens. Manchmal kam er sogar schon zu einem normalen Sabbath und er war einfach wunderbar. Jodie war so froh, ihn zu haben.
Sie wandte sich aber wieder an ihr gegenüber. "Und sonst? Alles klar? Das ist doch dein letztes Jahr, oder?" Die Blondine war sich nicht ganz sicher, da Lumi kleiner als sie war.

Lumi schien bei Jodies Schilderungen nachdenklicher zu werden und so stoppte die Blondine, da sie die Komikerin nicht verletzen wollte. Diese meinte gerade, dass es ihr letztes Jahr war, als sich eine weitere Schülerin zu ihnen gesellte. Es war eine, die im allerletzten Schuljahr war und Jodie war etwas verwirrt. Sie hatte gedacht, dass die Finnin ein Jahr über ihr war, aber wenn sie dieses Jahr zum letzten Mal hier her kam, dann musste sie zwei Jahre über Jodie und somit in der 8. Klasse sein - oder war es bei Lumi etwa anders, da diese schon ein Jahr früher hier war? Verwirrt fragte die Österreicherin. "Du, Lumi. Bist du jetzt in der 7. oder in der 8. Klasse? Ich bin grad etwas verwirrt!" Sag mal, wie doof bist du eigentlich? Toller Schulbeginn - wirklich! In Gedanken machte sie sich selber runter, entschied dann aber, dass sie das noch während dem Einschlafen tun konnte und lächelte wieder.
Die dritte im Bunde begrüßte die anderen Blondinen. Sie hatte einen kalten Blick drauf und schien nichts an sich ranlassen zu wollen. Jodie konnte das nur all zu gut verstehen und lächelte traurig. "Hey. Kathrin, richtig? Ich bin Jodie!" Sie wusste, dass diese Kath - wie sie von den meisten genannt wurden - im letzten Jahr und im Südflügel war, aber bei ihrem Namen, war sie sich nicht sicher.
"Die Schule füllt sich. Übermorgen beginnt der unterricht wieder. Yay!" Ironisch fügte sie das letzte Wort an. Sie hatte so keine Lust auf Unterricht - wie jedes Jahr. Aber leider konnte man an der Schulpflicht nichts ändern und Jodie wollte hier ihr Abi machen und dann irgendwohin in einen Zirkus oder eien Show verschwinden. Das Abi - so ihr Vater - konnte nie schaden und was wollte sie tun, wenn sie zu alt für den Zirkus war oder sich ein Bein brach und nicht mehr auftreten konnte? Doch so etwas war Jodie egal. Sie lebte jetzt und hier und sonderlich mehr interessierte sie nicht.